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SEILBAHNEN IN DER STADT

Wie Technologie aus dem Weltall Seilbahnen antreiben könnte

von Stefan Hajek 10. Juli 2021

 

Schöner schweben. Urbane Seilbahnen, hier in Koblenz, sind in Deutschland bisher nur touristisch. Bild: Picture Alliance/Zoonar

In Mexiko City eröffnet in diesem Juli die längste Seilbahn in einer Großstadt. In Deutschland werden die Chancen von städtischen Seilbahnen zwar seit Jahren erörtert, aber gebaut werden bislang keine. Das könnte sich nun ändern. Dank neuer Technologie und einem neuen Gesetz.

 

Es dauert, die nur gut 900 Meter Luftlinie von der Bonner Innenstadt auf den Venusberg zu überwinden. Im Auto an diesem Donnerstag Ende Juni genau 21 Minuten, für 8,7 Kilometer. Im Schritttempo schiebt sich die Pkw-Schlange die engen Serpentinen der Robert-Koch-Straße empor. Ein Bus kommt ihnen in der Kurve entgegen, zwingt die Autos halb auf den Radweg. Eine Gruppe von sieben oder acht Radlern bremst wacklig; einige rumpeln schimpfend auf die Bordsteinkante.

20.000 Menschen müssen laut Schätzungen der Stadt jeden Tag auf den Hügel im Westen Bonns, der neben einem Wohnviertel die Uniklinik, vier Hotels, Dutzende Arztpraxen und Medizinlabore beherbergt. Lösen lässt sich das tägliche Chaos vorerst nicht: Die Straße kann die Stadt wegen der dichten Bebauung nicht verbreitern; für eine Tram oder Busspur ist kein Raum. Eine U-Bahn wäre wegen der Steigung technisch sehr anspruchsvoll und auf jeden Fall extrem teuer.

Dabei läge eine Alternative auf der Hand, oder besser:
in der Luft. „In Bonn spricht alles für eine Seilbahn“,sagt Karl-Heinz Rochlitz. Beruflich befasst er sich für die Bundesnetzagentur mit der Auslastung von Bahnstrecken, privat kämpft er seit 2015 bei der Initiative „Seilbahn für Bonn – Ja!“ für den Bau des in deutschen Städten immer noch seltenen Verkehrsmittels. Rochlitz, 62, hat einen dicken Stapel Unterlagen zum Treffen an der geplanten Trasse nahe des Haribo-Werks mitgebracht: die Machbarkeitsstudie von 2017, Auszüge aus Gutachten, Protokolle von Bürgeranhörungen und Ratssitzungen. „Ganz Bonn ächzt unter dem Verkehr, nicht nur hier am Venusberg“, sagt er. Es fehlt an Ost-West- Verbindungen, die der Rhein kompliziert und teuer macht.

Viele Städte wie München möchten mit Seilbahnen den Berufsverkehr entlasten Bild: Mauritius Images/Volker Preusser

Die Seilbahn würde eine schaffen. Sie wäre damit auch die erste ihrer Art im Land und könnte endlich eine Technologie etablieren, die weltweit inzwischen zum Repertoire der Verkehrsplanung gehört. Ausgerechnet in Deutschland aber will man von Seilbahnen nichts wissen. Bis jetzt. Derzeit nämlich werden die Vorzüge der Technik dank jüngster Innovationen immer offensichtlicher. Zudem könnte der Fall Bonn endlich den Arbeitsnachweis liefern, der dem Verkehrsmittel Seilbahn bisher fehlt.

 

Die Politik hilft nach

Der Verkehrswissenschaftler Andreas Knie von der TU Berlin bestätigt Rochlitz’ Sicht auf die Dinge: „Seilbahnen sind leise, extrem schnell gebaut, energieeffizient, die Bau- und Betriebskosten betragen nur einen Bruchteil derer einer neuen Tram-Linie oder S-Bahn.“ Doch ihr größter Vorteil ist zugleich aus Sicht ihrer Gegner ein Nachteil: Als einziges urbanes Massenverkehrsmittel erschließen sie dem Verkehr eine neue Dimension. Deshalb gab es für die Bahnen lange keine etablierten Planungsprozesse, keine Förderprogramme und stattdessen viele Ängste. Erst langsam versucht die Politik nun gegenzusteuern. Seit Ende vergangenen Jahres gelten für die Seilbahn dieselben Förderrichtlinien wie für andere Massenverkehrsmittel in der Stadt. Einige Landesregierungen, etwa in Nordrhein-Westfalen, wollen jetzt mit neuen Seilbahngesetzen die im internationalen Vergleich umständlichen Verfahren vereinfachen.

Dreiseilbahnen können 6000 Menschen pro Stunde in jede Richtung befördern

Anderswo auf der Welt gedeiht die Seilbahnflotte schon prächtig: In Mexiko-Stadt eröffnet in diesem Monat die Hauptachse der längsten urbanen Seilbahn der Welt. Im Sekundentakt befördern Hunderte von Gondeln jährlich 18 Millionen Menschen aus dem schlecht erschlossenen Norden und Osten der Metropole ins Zentrum. Auch in den US-Städten Miami und Portland, in Singapur und Ankara sowie in südamerikanischen Metropolen wie Rio, La Paz und Bogotá verkehren Seilbahnen mitten in der Stadt. Der Verkehrsforscher Heiner Monheim von der Universität Trier hat kalkuliert: „In bis zu 3000 europäischen Städten könnte eine urbane Seilbahn den Nahverkehr gut ergänzen und teilweise erweitern.“

Mit den einst so gemütlich auf den Berg schaukelnden Vierergondeln aus den Alpen haben die Seilbahnen der neuen Generation nicht mehr viel gemein: Statt an einem hängen sie an drei armdicken Stahlseilen, die aus Hunderten feinen Drähtchen bestehen und so Zug- und Torsionskräfte optimal verteilen. Eines zieht die Gondel, an den zwei anderen gleitet sie besonders stabil. „Seitenwinde bis zu 100 Stundenkilometer sind damit technisch beherrschbar“, sagt Reinhard Fitz, Manager beim Marktführer Doppelmayr aus Österreich. Bei Einseilbahnen musste der Betrieb ab 60 Stundenkilometer eingeschränkt werden.

Auch sonst hat sich die Technologie weiterentwickelt. Dreiseilbahnen können 6000 Menschen pro Stunde in jede Richtung befördern. „Das ist weniger als die U-Bahn, liegt aber im Bereich anderer Massenverkehrsmittel wie Bus und Tram“, sagt Verkehrsforscher Knie. An den Stationen lässt sich die neueste Seilbahngeneration auf weniger als 0,2 Meter pro Sekunde abbremsen. So können auch Rollstuhlfahrer oder Menschen mit Kinderwagen gefahrlos zusteigen. Kameras und Videoanalyse-Software sorgen dafür, dass nicht zu viele Menschen auf einmal in die Gondeln drängen – inzwischen auch ganz ohne menschliches Personal in den Haltestationen.

Durch die Berge und übers Wasser Im französischen Brest und Chongqing in China sind Seilbahnen bereits Teil des öffentlichen Nahverkehrs.
Bild: DDP/Franck Guiziou, Imago Images

Weiterer Vorteil gegenüber Bus und Straßenbahn: Eine Seilbahn kann neben Passagieren auch Fracht transportieren. Entsprechende Gondeln werden einfach eingewechselt; Antrieb, Infrastruktur und Software sind dieselbe. Auf schwankende Fahrgastzahlen reagiert die Seilbahn flexibel: „Sowohl die Größe der Gondeln als auch ihr Abstand zueinander lässt sich den Bedarfen anpassen“, sagt Fitz. Ist weniger los, hat der Betreiber mehrere Optionen: jede zweite oder dritte Gondel garagieren, wie das im Fachjargon heißt, oder die ganze Bahn langsamer laufen lassen.

Mit Technologie aus dem Weltall

Tobias Meinert denkt die Idee der Seilbahn noch weiter. Eigentlich arbeitet er an der RWTH Aachen an einem Kupplungssystem, mit dem die Teile modularer Satellitensysteme im Orbit zusammengefügt werden sollen. „Die Teile bewegen sich rasant, müssen dennoch millimetergenau aufeinander angepasst werden“, beschreibt Meinert die Tücken. Algorithmen, gefüttert mit den Daten aus Radar- und Ultraschallsensoren, helfen dabei, die durchs All rasenden Satelliten genau aufeinander zu flanschen.

Seine Weltraumtechnologie, inzwischen zum Patentschutz angemeldet, will Meinert nun für eine ganz neue Form der Seilbahn nutzen: den UpBus. Dessen Gondeln können an bestimmten Haltepunkten abgeseilt und auf bereitstehende Busgestelle gesetzt werden, sogenannte Skateboards. Die enthalten neben dem Fahrwerk die komplette Antriebstechnik wie Batterie und Elektromotor. „Das Konzept hat Potenzial“, sagt Doppelmayr-Manager Fitz, „vor allem für künftig autonom fahrende Personen- und Güterbahnen ist das interessant.“ Kürzlich war Meinert mit Kollegen für einige Wochen bei Doppelmayr in Vorarlberg. Zusammen mit den österreichischen Ingenieuren haben sie das An- und Abkuppeln der Gondeln trainiert und viele Daten gesammelt.

An statistisch 25 Tagen im Jahr werde die Bahn wegen Starkwinden stehen

Die ersten staugeplagten Städte interessieren sich dafür, mit etwa zehn weltweit sei er im Gespräch, sagt Co-Gründer Meinert. Etwa Trier. Eine klassische Seilbahn scheidet dort aus, zu sehr würde ihr Erscheinungsbild die historische Altstadt stören. Doch Trier hat immense Verkehrsprobleme: Im Osten schießen neue Wohnviertel aus dem Boden, viele Bewohner arbeiten im nahe gelegenen Luxemburg im Westen. „Die Alternative zum UpBus wäre ein teurer Tunnel“, sagt Verkehrsgutachter Monheim. Ein Anlauf mit einer klassischen Seilbahn war 2012 gescheitert. Wegen der „veränderten technischen Möglichkeiten“ und dem anhaltenden Pendlerdruck will nun eine breite Mehrheit aus FDP, SPD, CDU, Grünen und Linken neu kalkulieren. „Es wäre fahrlässig, wenn wir diese technologische Chance nicht nutzen würden“, sagt der Trierer Verkehrspolitiker Rainer Lehnart (SPD).

Auch in Bonn sind die Gegner eher in der Minderheit, aber lautstark. Ihr Vorsprecher ist der pensionierte Physiker Gundolf Reichert. Anders als etwa in Wuppertal, wo Anwohner, über deren Gärten eine dort geplante Seilbahn gefahren wäre, das Projekt zum Scheitern brachten, geht es Reichert nicht um Privatsphäre im Garten, sondern ums Prinzip. So gut wie alle Fakten und Vorteile, die die Befürworter und Gutachter ins Feld führen, bestreitet er: Fahrgastpotenziale seien in den Gutachten ebenso schöngerechnet wie der Strombedarf und die Kosten. An statistisch 25 Tagen im Jahr werde die Bahn wegen Starkwinden stehen. Dann müsse teurer Busersatzverkehr her. Der Hang am Venusberg sei geologisch nicht geeignet: Setze man dort einen Pfeiler, drohe er zu rutschen.

Anbindung an Bus und Bahn

Wie begründet diese Skepsis ist, lässt sich schwer beurteilen. Offensichtlich aber sind die Vorteile: Die Trasse führt kaum über Privatgrund. Von Ramersdorf auf der rechten Rheinseite soll sie mit insgesamt fünf Haltestellen den Post Tower, den UN Campus im ehemaligen Regierungsviertel, den Hindenburgplatz und den Venusberg mit der Uniklinik verbinden. Auf der Trasse liegen zahlreiche große Institutionen, etwa die Deutsche Post, die Bundesnetzagentur, das Kongresszentrum, das Museumsviertel und das Naherholungsgebiet Rheinauen. Sie würde einen Bahnhof mit zahlreichen Regionalzügen, einen FlixBus-Standort, mehrere Parkhäuser und zwei U-Bahn-Stationen queren – überall dort könnten Fahrgäste schnell umsteigen.

 

Damit kommt das Bonner Projekt aus Sicht vieler Verkehrsplaner der Idealvorstellung schon sehr nahe. Sonst komme eine Seilbahn „oft erst als letzte Notlösung in die Planungen, wenn gar nichts mehr geht, weil eine Verkehrssituation hoffnungslos verfahren ist“, sagt Mobilitätsforscher Knie. Sein Kollege Monheim hat in den Planungsausschüssen deutscher Städte immer wieder „Kopfschütteln und Gelächter“ kassiert, wenn er die Option Seilbahn einbringen wollte. „Wo ist der Berg, wo der Schnee?“

Wo Seilbahnen doch entstehen, werden sie oft bloß als Touristenattraktion betrachtet. In Koblenz etwa, wo eine anlässlich der Bundesgartenschau errichtete Gondelbahn nach nur 13 Monaten Bauzeit seit 2010 den Rhein überspannt, ist sie bis heute nicht mit dem restlichen Nahverkehr der Stadt verzahnt. Die Bahn schwebt malerisch über die Moselmündung auf die Feste Ehrenbreitstein. Doch die Fahrgäste an diesem heißen Frühsommertag sind dünn gesät: ein paar asiatische Touristen, einige Rentner auf E-Bike-Tour am Rhein. Anders als in Mexiko-Stadt oder Portland hat hier niemand auf die Nähe zu Bus und Bahn geachtet. „Dabei liegt in Koblenz unweit der Bergstation ein Neubaugebiet, das so einen schnellen Zugang zur City bekäme“, sagt Monheim.

Und so setzen die Seilbahnfans im Land nun all ihre Hoffnungen auf Bonn. „Wenn es dort nichts wird, kann man es in Deutschland wahrscheinlich nirgends machen“, sagt Wissenschaftler Monheim. Immerhin, die Front der Unterstützer ist breit: Neben dem Management des staugeplagten Uniklinikums ist auch die Post dafür, ebenso die meisten anderen Konzerne und Behörden mit Büros entlang der Trasse. Im Rat gibt es eine parteiübergreifende Mehrheit. „Wir sollten die Seilbahn auf alle Fälle verfolgen. Wir könnten mit ihr die Mobilitätssituation deutlich entspannen“, sagt Oberbürgermeisterin Katja Dörner (Grüne). Ob es dazu kommt, wird sich schon bald zeigen: Die Verhandlungen über die Finanzierung mit Bund und Land laufen bereits, im Herbst soll nun eine Kosten-Nutzen-Analyse veröffentlicht werden. Sollte die positiv ausfallen, so haben es die vier Regierungsparteien im Rat in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, wird es einen Bürgerentscheid geben. Danach kann die Planung beginnen.